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Die wahre Zuger Morgenroutine

Auf die Frage, ob wir uns um 4 Uhr morgens oder 4 Uhr nachmittags treffen, antwortet Marcel nur mit einem Lachen. Von den Morgenroutinen selbsternannter Erfolgscoaches habt ihr sicher schon gehört. Doch die härteste Morgenroutine am Zugersee beginnt weder mit Stretching noch mit Cold-Brew. Sie beginnt im Dunkeln, mit Benzin, Netzen und eisigen Fingern. Sie gehört den Berufsfischern Marcel Wismer und Hans-Ueli Zwimpfer.


Die wahre Zuger Morgenroutine

Zwischen Villen und Vergangenheit

Aus 4 Uhr wurde für mich dann glücklicherweise doch 5.30 Uhr. Wo der Zugersee heute fast nur noch von Villen gesäumt ist, steht mittendrin, eingequetscht zwischen zwei Supervillen, Marcels kleines Fischerhaus. Für mich ist die Lage dieses Häuschens symbolisch für den Werdegang unseres Kantons, der seinen Namen der Fischerei zu verdanken hat. Vergangenheit und Gegenwart treffen in Risch unmittelbar aufeinander. 

Tuckern in der Dämmerung

Als ich eintreffe, sind Marcel und sein Mitarbeiter Hans-Ueli bereits voll bei der Arbeit. Im Schein der Lampe laden sie in Eis eingebettete Fische in den Transporter, die Ausbeute vom ersten Fischgang. Wir klettern auf den kleinen Fischkutter, und per Knopfdruck lässt Marcel das Boot gemächlich ins Wasser hinab. Leise tuckern wir in der Morgendämmerung auf den See hinaus. Nebst dem Brummen des Motors höre ich nur ein leises Radio im Hintergrund und ein paar aufgeregte Möwen. Die wissen ganz genau, dass es bald wieder Beifang für sie gibt. Ansonsten herrscht Stille. 

Vom «Fischgrind» zum Vollzeitfischer

Schon als Kind war der heute 78-jährige Marcel von der Faszination der Fischerei angefixt. Sein Götti in Walch­wil, selbst Fischer, nahm ihn häufig mit hinaus auf den See. So hat Marcel so manchen Tag seiner Jugend auf dem Wasser verbracht und früh die Liebe zum See entdeckt. Trotzdem schlug er zunächst einen anderen Weg ein: Gelernt hat er Maschinenbauzeichner und arbeitete jahrelang in der Disposition bei der Firma Hürlimann AG. Seine Kollegen neckten ihn damals bereits mit dem Spitznamen «Fischgrind», weil er jede freie Minute am Wasser verbrachte. Als Berufsfischer arbeitet Marcel seit 1974. 

Netz für Netz, Fisch für Fisch

Inzwischen hat Hans-Ueli damit begonnen, die Netze einzuholen, sogenannte Schwebenetze, die mithilfe von Styroporklötzen in den oberen 10 bis 15 Metern unter der Wasseroberfläche schweben. Mit dieser Methode fangen Hans-Ueli und Marcel vor allem Felchen. Diese Felchen ernähren sich von Plankton, das sich genau in dieser Wassertiefe aufhält. Die beiden Fischer nennen den Felchen ihren «Brotfisch»: Er ist so beliebt als Speisefisch und zugleich so einfach zu fangen, dass er die Existenzgrundlage der Berufsfischerei bildet. 
Die erste Felche zappelt bereits im Netz. Über eine elektrifizierte Spule, die Hans-Ueli mit einem Fusspedal antreibt, wird das Netz langsam eingeholt. Immer wieder zappelt in den Netzmaschen ein silberner Fisch. Mit einem kurzen, geübten Hieb gegen die Bootskante macht Hans-Ueli dem zappelnden Felchen ein schnelles Ende und legt den Fang behutsam in eine Kiste voller Eis. Hans-Ueli löst anschliessend die weissen Schwimmkörper vom Netz und übergibt sie Marcel. Marcel nimmt die Schwimmhilfen entgegen, wickelt die Leine auf und verstaut alles sauber hinter der kleinen Bootskabine, damit beim nächsten Auswerfen wieder alles an seinem Platz ist. 

Leinen los: Auf dem Weg zu den Netzen
Leinen los: Auf dem Weg zu den Netzen
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Ein Handwerk in der Krise

Berufsfischer am Zugersee gibt es nur noch sechs. Gänzlich von der Fischerei leben kann man in der Schweiz nur noch an wenigen Seen. Marcel erklärt mir, dass es wichtig sei, als Fischer ein zweites Standbein zu haben, da es selbst bei einem ertragreichen See wie dem Zugersee immer wieder schwache oder sogar sehr schlechte Jahre gebe. Man müsse erfinderisch sein, um über die Runden zu kommen, und ein gutes Netzwerk zu den Fischern benachbarter Seen pflegen. Er selbst ist dafür das beste Beispiel. Das Boot, auf dem wir stehen, hat Marcel eigenhändig gebaut, ein Macher durch und durch. 
Im Gegensatz zu Marcel wurde Hans-Ueli die Fischerei in die Wiege gelegt. Er entstammt einer alten Sempacher Fischerdynastie und führt zu Hause den Betrieb der Familie Zwimpfer in der 13. Generation. Doch auch für ihn gilt: Vom Fischfang allein kann man kaum leben. Nebst dem Zugersee bewirtschaftet er auch den Sempachersee, betreibt eine Brutanstalt und unterhält in Sursee eine eigene Verarbeitungsstelle. Insgesamt vier mobile Verkaufswägen mit Präsenz auf verschiedenen Märkten in der Schweiz gehören ebenfalls zu seinem Imperium.

Harte Arbeit, raue Zeiten

Diese Selbstständigkeit hat allerdings einen Preis. Damit Hans-Ueli zwei Seen befischen kann, beginnt sein Arbeitstag um zwei Uhr morgens. Wer jetzt denkt, dass er dafür am Mittag Feierabend macht, liegt falsch. Der Fisch muss nämlich verarbeitet und schliesslich verkauft werden. So ist, wie bei den meisten von uns, etwa um 18.00 Uhr Schluss und am Wochenende wird ebenfalls gearbeitet. Kein Wunder, dass die Anzahl Berufsfischer von rund 1000 in den 1970er-Jahren auf heute etwa 130 geschrumpft ist. Und Subventionen vom Bund? Gibt es für die Fischer keine. 
Langsam zeigen sich die ersten Sonnenstrahlen über dem Zugersee. Wie eine glitzernde Kette schimmern die gefangenen Felchen im Netz knapp unter der Wasseroberfläche, bevor Hans-Ueli sie ganz hereinholt. Eine idyllische Stimmung breitet sich aus. Das frühe Aufstehen hat sich definitiv gelohnt. «Im Sommer ist es traumhaft hier draussen auf dem See», erzählt Marcel leise, «aber die Winter sind grauenvoll.» Einmal, so berichtet er, habe das Wetter urplötzlich umgeschlagen. Nebst dichtem Schneegestöber türmten sich auf einmal meterhohe Wellen um ihn herum auf. Marcel reagierte sofort, holte das Netz ein und fuhr, so schnell er konnte, zurück an Land. Später, so erzählt er, habe er in der Zeitung gelesen, dass an jenem Tag in Zug ein anderer Fischer von der Seepolizei gerettet und nur knapp mit dem Leben davongekommen sei. «Ich wäre an seiner Stelle gestorben», ist Marcel überzeugt. 

Ein Mann, eine Spule,  kein Entkommen.
Ein Mann, eine Spule, kein Entkommen.
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Sauberes Wasser, leere Netze

Die Felchenpopulation hänge stark vom Phosphatgehalt im Wasser ab, sagt Hans-Ueli. Phosphat gelange übers Abwasser in die Seen und fördere das Algenwachstum. Diese Algen dienen dem Plankton als Nahrung, von dem sich die Felchen ernähren. Die Behörden wollen die Seen in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen, mit weniger Schad­stoffen und auch weniger Phosphat. Aus Sicht der ­Berufsfischer ist das problematisch, weil dadurch die Nahrungsbasis der Fische schrumpfen könnte. Die Seesanierung sorgt daher immer wieder für Spannungen zwischen Fischern und Behörden.In den letzten Jahren sei es der Felchenpopulation laut den Fischern «lustigerweise» wieder besser gegangen, offenbar wegen häufiger Überschwemmungen. Ihre Theo­rie: Starkregen habe Dünger von Äckern in den See gespült und das Planktonwachstum angekurbelt. Dass dieser Zustand weder natürlich noch nachhaltig ist, darüber sind sich alle einig.

Rückkehr in eine andere Welt

Wir erreichen schliesslich die letzte Boje. Zeit, das letzte Netz einzuholen. Die Fischkisten an Bord füllen sich. Marcel und Hans-Ueli blicken zufrieden auf die Ausbeute dieses Morgens. Rund 170 Kilogramm Felchen haben sie heute gefangen. Langsam tuckern wir zurück in Richtung Ufer. Es fühlt sich an, als kehrten wir wieder in eine andere Welt zurück. Dort drüben erwachen die Villen von Risch allmählich im ersten Tageslicht, während wir unseren Fang des Tages schon an Deck haben. Auf den Bäumen neben der Hütte hocken mehrere Reiher, und hoch über uns kreist ein Milan. Die Vögel haben die Fischreste vom ersten Fang längst entdeckt und freuen sich auf die Gratismahlzeit. Hans-Ueli manövriert den Kahn gekonnt in die schmale Lücke des Bootshauses.

Über die Kunst der Fischerei –  von einem, der sie beherrscht.
Über die Kunst der Fischerei – von einem, der sie beherrscht.

Aus Silber wird Filet

Nach dem Auswassern und dem Verstauen der Beute treffe ich Marcel in seiner Verarbeitungsküche in Buonas wieder. Jetzt zeigt er mir, was mit dem Fang weiter geschieht. Zuerst werden die Felchen in einer rotierenden Trommel maschinell entschuppt. Dann geht es ans Grobzerlegen. Marcel greift sich Fisch für Fisch, trennt mit geübtem Schnitt Köpfe und Flossen ab. Nun geht’s durch die Filetiermaschine. Ein surrendes Schneidewerk zerteilt die Fische der Länge nach und entfernt die Eingeweide. Ruckzuck kommen auf der anderen Seite zwei Filets heraus, denen die Bauchgräte noch herausgeschnitten werden müssen. Zum Abschluss werden sie noch von Hand inspiziert und getrimmt. Die frischen Filets werden portionsweise vakuumiert. In Kühlboxen warten sie auf den Weitertransport zum Endkunden. 

Zwischen Romantik und Realität

Die Begegnung mit Marcel und Hans-Ueli hat mir eindrücklich vor Augen geführt, wie viel Leidenschaft, ­Ausdauer und handwerkliches Können in der Fischerei steckt. Und doch steht dieses uralte Gewerbe unter immensem Druck, verursacht durch Klimaveränderungen, politische Entscheidungen und knallharte wirtschaftliche Realitäten. Es braucht mehr als nur romantische Bilder vom Sonnenaufgang auf dem See, um diese Kultur am Leben zu erhalten. Wenn ich heute eines gelernt habe, dann ist es, die frühen Morgenstunden zu schätzen. Wer weiss, vielleicht bringt mich diese Erfahrung ja tatsächlich dazu, künftig öfter früher aufzustehen. Zumindest weiss ich jetzt, wie echte Morgenroutinen aussehen. Ohne Podcast, ohne Proteinshake. Nur Netz, Benzin und eisige Finger. 

Lust auf echten Zugersee-Fisch? Frische Fische von Marcel und Hans-Ueli gibt’s jeden Samstag am Altstadtmarkt in Zug.

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