Mit seinen 71,80 Metern ist der «Chomer Chileturm» der höchste aller Kirchtürme im Kanton Zug und unübersehbares Wahrzeichen der Gemeinde Cham. Von der Zuger Seeseite aus ist das gesamte Bauwerk samt Turm ein hilfreicher Orientierungspunkt.
Ältester Teil der Kirche
Die Basis des «Chomer Chileturms» unterhalb der Uhr ist der älteste Teil der Kirche und geht auf etwa 1500 zurück. Aussergewöhnlich ist sein Standort im Winkel von 45 Grad zur Kirche. Das neue Kirchenschiff, 1783–85 erbaut, fand nur so Platz auf dem bestehenden Hügel, dem «Kirchbühl». Weil die Turmhöhe im Verhältnis nicht zu dem massiven Neubau passte, wurde noch ein neuer Turmabschluss in Auftrag gegeben. Baumeister Joseph Keusch baute eine rund 15 Meter höhere Holzkonstruktion als vom Architekten geplant. 15 Jahre später fegte ein Sturm den Spitzhelm vom Turm. Der Ersatz mit seinen 36 Metern von der Plattform bis zur Turmkugel steht noch heute.
Raum für viele Pilger
Ihre Grösse verdankt die Kirche wohl dem regen Pilgerbetrieb des Hochmittelalters. Dank der Grabstätte des heiligen Bischofs ohne Namen war sie eine beliebte Wallfahrtskirche und damit Ziel vieler Pilger. Die ursprüngliche Pfarrkirche war kleiner und vermutlich eine derjenigen, die in der Schenkungsurkunde von 858 erwähnt wurde, die Cham zum ältesten, schriftlich belegten Ort des heutigen Zugerlands macht.
Glockenklang, strikt geregelt
Nicht nur optisch setzt der Kirchturm ein Zeichen, er trägt auch die Glocken. Wer den ausgetretenen, engen Holzstufen in die Höhe folgt, vorbei am holzverkleideten Uhrwerk, erreicht im vierten Geschoss die Glockenstube. Die heute sieben verschieden grossen Glocken mit unterschiedlichem, aufeinander abgestimmtem Klang bringen zusammen rund 11,5 Tonnen Gewicht auf die Waage – etwa so viel wie zwei Afrikanische Elefanten oder drei Nilpferde.
Während die Glocken für den Stundenschlag von aussen angeschlagen werden, werden sie beim grossen Geläut in Schwung gebracht, sodass der Klöppel innen an die Glockenwand schlägt. Das Geläut folgt einer festgelegten Läutordnung: Je nach Anlass – regulärer Gottesdienst oder Feiertag, Taufe, Hochzeit oder Abdankung – ist genau festgelegt, welche Glocken einzeln oder miteinander wie lange zum Einsatz kommen. Alle sieben zusammen läuten nur an den Hochfesten: Weihnachten, Ostern und Pfingsten.
Geläut zur Tagesstruktur
Das Betzeit-Geläut um 6, 11 und 19 Uhr strukturiert, einer langen Tradition folgend, den Tag. Auch der Stundenschlag gibt Orientierung, was interessanterweise besonders Menschen schätzen, die nachts nicht schlafen können. Pfarrer Rey: «Wir bekommen häufig Rückmeldung, gerade von Menschen aus dem Pflegeheim, dass sie froh sind um den Glockenschlag in der Nacht.»
Die meisten von uns werden die Glocken vermutlich gar nicht wahrnehmen. Dabei könnten sie manchmal eine gute Erinnerung für mehr Achtsamkeit sein. So läuten am Samstag um 16 Uhr – ebenso wie am Vortag von Feiertagen – die Glocken während ganzen zehn Minuten den Sonntag ein. «Früher hiess das, man hörte auf zu arbeiten und hat sich ‹g’sunntiget›, also ein Bad genommen und sich parat gemacht für den Sonn- oder Feiertag», erklärt Pfarrer Rey den Sinn dahinter. Vielleicht auch heute eine Anregung, die Arbeit am Wochenende ruhen zu lassen.

Das grosse Schweigen
Für Ministrant:innen und ihre Familien ist es ein besonderes Highlight und ein grosses Privileg, wenn sie einmal im Jahr den Ersatzdienst für das Geläut übernehmen dürfen. Das ist an Karfreitag und Karsamstag der Fall, wenn das Glockengeläut aus liturgischen Gründen ausgesetzt wird – als Sinnbild für die Grabesruhe von Jesus. Wie Pfarrer Rey weiss, ranken sich darum viele Geschichten: «Einer Legende nach heisst es, die Glocken fliegen nach Rom, um sich vom Papst segnen zu lassen.» In dieser Zeit wird das tägliche Betzeit-Läuten sowie das Einläuten der Gottesdienste durch gute alte Handarbeit ersetzt, während der Stundenschlag bleibt.
Spezialdienst der Minis
Eliah und Véronique, zwei Elfjährige aus der Schar der Chamer Ministranten, sind schon alte Hasen in diesem besonderen Dienst. Voller Stolz führen sie mich weiter nach oben, noch eine Metallleiter und einen weiteren Treppenaufgang rauf. «Es macht schon einfach Spass, wenn man auf den Turm hoch darf», erzählt Eliah strahlend. «Aber an Karfreitag ist es ganz besonders, so an den Tod von Jesus zu erinnern.» Auch Véronique empfindet das so, «eine besondere Atmosphäre».
Wir stehen vor der massiven Holzrätsche, die im Turm auf einem Tisch gelagert wird. Erst an Karfreitag wird sie auf die Galerie rausgeschleppt. Dann ist voller Körpereinsatz gefragt. Auf beiden Seiten stehend, drehen zwei Personen an der Kurbel, sodass die dicken Holzlamellen über die genoppte Walze angehoben werden und mit lautem Klatschen wieder in die ursprüngliche Position zurückfedern. «Eine Minute mag man schon durchhalten, vielleicht auch zwei», schätzt Véronique. «Dann muss man wirklich abgeben, weil es so streng ist in den Armen.» Zum Glück ist ja meist eine ganze Gruppe von Ministranten oben.

Ausdauer gefragt
Am anstrengendsten ist das Einläuten vor dem Gottesdienst, denn dafür wären zehn bis zwölf Minuten vorgesehen. Eliah berichtet: «Vor dem Gottesdienst kommen Minis nicht so gern, weil man dann kaum Zeit hat zum Runterlaufen und sich Umziehen für die Messe.» Offensichtlich findet sich trotzdem immer jemand. Der Pfarrer erzählte, nach der Länge des Einsatzes befragt, lachend: «Eigentlich geht Rätschen ‹ad libitum›, also so lange man Lust hat – oder eben Kraft.» Es hängt also davon ab, wer den Dienst übernimmt. Und das können durchaus auch Familien und ehemalige Ministranten sein. Die Tradition ist beliebt.
Komische Geräusche
Das Aufschlagen der gelupften Holzlamellen sorgt auf jeden Fall für ordentlichen Lärm und ist, je nach Windrichtung, im Ort gut hörbar. Aber der Klang der Rätsche ist ungewohnt. Sigrist Benno Hotz erzählt uns beim Abstieg: «Einmal ist tatsächlich die Polizei vorgefahren: Ein Anwohner hatte sie informiert, weil er ein merkwürdiges Geräusch gehört hatte, das er nicht kannte. Denen musste ich erst einmal erklären, was bei uns oben los ist …»
Ostern steht schon vor der Tür. Und so gibt es schon bald die Gelegenheit, sie zu hören – die fleissigen «Kurbler» an der Rätsche vom Chamer Kirchturm.

